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exposé

Seit ihrer zufälligen Entdeckung hat die «Neue Welt» immer eine sowohl politische als auch intellektuelle Herausforderung für Europa dargestellt. So löste die Entdeckung eines kompletten Kontinents, einer bisher unbekannten Natur und einer Reihe von Völkern, von denen zuvor noch niemand je gehört hatte, auf der einen Seite einen langen Prozess des Nachdenkens und Forschens aus, der unweigerlich dazu führte, dass das bisher scheinbar feststehende Wissen in Frage gestellt und verändert wurde. Auf der anderen Seite verursachten die darauf folgenden Erkundungs- und Eroberungsfahrten einen Prozess der beschleunigten Globalisierung, der eine radikale Veränderung bedeutete (und bis heute bedeutet) in unserer Auffassung von der Welt, von den Beziehungen zwischen den Menschen, die diese Welt bewohnen, und von der Art und Weise, wie wir versuchen, darin zusammenzuleben.


Von dieser Herausforderung zeugt die Debatte, die wir heute als den «Disput um die Neue Welt» kennen. Als die koloniale Hegemonie von Portugal und Spanien auf Frankreich, Holland und England Ã¼berging, wurde das Monopol, das bis dahin die iberischen Mächte über die entdeckten Länder und Handelswege gehabt hatten, aufgebrochen. Es begann ein „transnationaler“ Wettlauf um die Herrschaft und Kontrolle der Gebiete in Ãœbersee. Angesichts der menschlichen Katastrophen, die dieser Wettstreit mit sich brachte (die Ausbeutung und die Auslöschung ganzer Völker), bildete sich in der Folge eine breite Gruppe von Gelehrten, Philosophen und Wissenschaftlern heraus, die mit großer Beharrlichkeit die schwierige Frage aufwarfen, ob die Europäer, im Glauben, den Fortschritt in die Welt zu tragen, das Recht hatten zu kolonisieren und zu herrschen:


Wer darf überhaupt andere Völker kolonisieren? Unter welchen Umständen sollen West- und Ostindien von der europäischen Zivilisation beherrscht werden? Welche der Eigenschaften der Natur der Â«Neuen Welt» sind maßgeblich für die Unterlegenheit ihrer Bewohner? Welche Praktiken des Handels und der Kolonisierung sind im Namen der Zivilisation und des Fortschritts vertretbar?


Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kritik an der «dunklen Seite» der Aufklärung ist der Bogen, den diese Dispute (von Cornelius de Pauw bis Hegel) spannen, neu interpretiert worden als philosophische und wissenschaftliche Beweisführung für die (vermeintliche) Minderwertigkeit Amerikas und seiner Bewohner im Vergleich zu Europa. Die neuen «global players» des 18. und 19. Jahrhunderts haben so auf säkulare und moderne Art und Weise die kolonialen Argumente der Imperien früherer Jahrhunderte überarbeitet – mit dem Ziel, sich die «Neue Welt» mit Blick auf ihre Interessen zu eigen zu machen. Die Wissenschaften und das verfügbare Wissen der Zeit standen so im Dienste der Ungleichheit, der Ausbeutung und der Bestätigung einer Weltordnung, in der die kolonisierten Gebiete den Hierarchien des alten Kontinents untergeordnet bleiben.


Selbstverständlich gab es innerhalb dieses Disputs auch Stimmen und Positionen, die von der offiziellen Linie abwichen; aber im Kontext der kolonialen Ordnung hat man ihnen kaum Gehör geschenkt. Unser Hauptinteresse besteht nun darin, der bisher sehr einseitigen Interpretation der Debatte eine umfassendere Perspektive entgegenzustellen, die gerade auch den kritischen Beiträgen Rechnung trägt. Wenn man die Konstellation aufmerksam betrachtet, in der einige der Protagonisten dieser Debatte um die «Neue Welt» sich bewegt haben, dann fällt auf, dass ein großer Teil der Auseinandersetzung ausgerechnet in Berlin und Potsdam stattgefunden hat – in einem Raum also, der zwar auch eine «kleine» Kolonialgeschichte vorzuweisen hat, der damals aber dennoch gerade nicht als kosmopolitisch oder gar globalisiert galt. Ausgerechnet hier fand im Jahr 1755 mit der Aufführung der Oper Montezuma, deren Libretto Friedrich II. persönlich geschrieben hatte, eine Art «Urszene» der Auseinandersetzung statt, und ausgerechnet hier bekam die Diskussion spätestens im September 1769 größere Bedeutung, als nämlich Cornelius de Pauw in einem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften in Berlin seine Thesen von der Minderwertigkeit der Amerikaner vorstellte, die er ein Jahr zuvor in seinen Recherches philosophiques sur les Américains entwickelt hatte. Die Gegend um Berlin und Potsdam stellt so eine Art dritten Raum dar, einen globalen Transit- und Bewegungsraum nämlich, der seinen Akteuren (neben de Pauw und Friedrich selbst etwa dessen Bibliothekar Pernety, aber auch Georg Forster, Alexander von Humboldt und Hegel) eine Reflexion über die «Neue Welt» erlaubte, die sich nicht notwendigerweise in den Dienst der kolonialen Interessen stellen ließ, sondern die sich ausgehend von methodischen, wissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen artikulierte. Auf diese Weise konnte die sogenannte «Berliner Debatte» die herrschende koloniale Ordnung und die daraus resultierende Interpretation der Welt kritisch hinterfragen und diskutieren.


Sicherlich haben es die Vorschläge und Beiträge dieser Akteure nicht geschafft, vollständig mit den Asymmetrien der kolonialen Ordnung aufzuräumen – aber ihre wissenschaftlich- philosophischen Bemühungen greifen auf Argumente, Studien und Beobachtungen von Reisenden, Gelehrten und Wissenschaftlern aus der «Neuen Welt» zurück, denen es immerhin gelingt, eine Weltordnung und das Bild einer Wissenschaft und einer Gesellschaft zu entwerfen, die sich grundlegend von derjenigen unterscheiden, die zuvor die Kolonialmächte durchgesetzt hatten. Wenn man sie aus dieser Perspektive betrachtet, dann öffnet die «Berliner Debatte» den Weg dazu, die Entwicklung des modernen Denkens mit Blick auf eine plurale Welt zu verstehen, in der die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Beziehungen in ständiger Bewegung und in ständiger Veränderung begriffen sind. Zugleich zeigt sie uns, dass man auch unsere Gegenwart nur aus dieser komplexen Geschichte der Moderne und des Kolonialismus heraus denken und diskutieren kann.

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Ziele​
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Das Ziel, das wir mit unserer Tagung verfolgen, ist deshalb ein doppeltes: Einerseits möchten wir die Debatten nachzeichnen, die rund um Berlin und Potsdam stattgefunden haben und in denen mit Blick auf die weltweiten Bewegungen von Personen und von Wissen unterschiedliche und durchaus auch gegensätzliche Formen vorgeschlagen worden sind, eine Ordnung für die Welt in ihrer beschleunigten Globalisierung zu denken. Andererseits wollen wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen versammeln (unter anderem Romanisten, Germanisten und Historiker), um so eine inter- und transdisziplinäre Annäherung an die «Berliner Debatte» zu fördern, die es uns erlauben soll, die Vielzahl von Blickwinkeln zu entdecken und neu zu beurteilen, die sich in dieser Debatte kreuzen und deren Kenntnis auch in unserer aktuellen Phase der beschleunigten Globalisierung die Voraussetzung für eine mehrdimensionale Reflexion von deren Problemen ist.


Um tatsächlich mit Erfolg diskutieren zu können, planen wir die Erstellung eines Readers mit den grundlegenden Texten der Debatte, der vorab allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen unserer Tagung zur Verfügung gestellt werden soll. Damit schließlich auch die Ergebnisse unserer Diskussionen eine möglichst große Verbreitung finden, sollen diese Textauszüge im Sinne einer kritischen Anthologie zusammen mit den sich auf sie direkt beziehenden Beiträgen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen in einem Buch veröffentlicht werden. Auf diese Weise wollen wir nicht nur den zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven Rechnung tragen, die aus der «Berliner Debatte» entstanden sind, sondern auch und vor allem deren großen narrativen Bogen nachzeichnen, der diese verschiedenen Perspektiven orientiert.

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Vicente Bernaschina, Tobias Kraft, Anne Kraume​

MIT 

UNTER

STÃœTZUNG

VON

symposium »herrschaft. legitimation. wissen.«

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